Das Jahr 2018 endet. Alle schauen zurück, was war dieses Jahr so los und auch ich komme da nicht drumherum. Jemand sagte mir zum Jahresende hin: „Du bist über 30, wie oft kannst du noch sagen, dass hast du zum ersten Mal in deinem Leben gemacht oder erlebt?“. Rückblickend betrachtet gab es dieses Jahr viele erste Male. Es war ein aufregendes und anstrengendes Jahr. Wenn Ihr Lust habt, nehme ich Euch für ein paar Minuten mit auf meine persönliche Reise durch das Jahr 2018.
Januar
Das Ereignis des Monats war eigentlich bereits vorher absehbar eine antifaschistische Kundgebung am 20.01. im sächsischen Wurzen. Wurzen ist seit Jahrzehnten ein wichtiger Ort der rechten Szene in Sachsen. Hier im Umland von Leipzig haben sie Räumlichkeiten für Veranstaltungen, und um Geld zu generieren und können im örtlichen Fußballverein Jugendliche rekrutieren.
Antifaschistische Intervention in Wurzen wird daher von Neonazis als direkter Angriff auf ihre Homezone gesehen. Bereits eine antifaschistische Demonstration im September 2017 wurde durchgehend von mehreren Dutzend teilweise vermummten Neonazis begleitet, vereinzelt kam es zu Angriffsbemühungen. Deswegen war klar, dass auch die Kundgebung des Bündnisses „Irgendwo in Deutschland“ am Bahnhof nicht unbeobachtet bleiben wird.
In unmittelbarer Nähe zur antifaschistischen Kundgebung mit rund 250 Menschen sammelten sich bis zu 30 Neonazis, die trotz sichtbarer Vermummung mit der örtlichen Polizei über eine Spontanversammlung verhandelten. Dabei waren eher jüngere Neonazis rund um Cedric Scholz, der auch Tatverdächtiger beim Angriff auf Connewitz im Januar 2016 ist. Die „alten Hasen“ um den Kampfsportler Benjamin Brinsa sammelten sich an einem anderen Ort, einem Grundstück in der Nähe der Kundgebung.
Dort kam es auch zum Aufeinandertreffen von Journalisten wie mir und eben diesen Neonazis. Bewaffnet mit Messern, Baseballschlägern, Teleskopschlagstock und Pfefferspray kamen sie auf die Journalisten zu. Eine Person zog dabei die Klinge symbolisch am eigenen Hals entlang und deutete anschließend mit dieser in Richtung der Journalisten. Ein rechter Fotograf brüllte mir zu, dass man mich kriegen würde. Zeitgleich bewegte sich die antifaschistische Kundgebung in Richtung der Neonazis. Die Polizei trennte alle, drängte die Neonazis auf ihr Grundstück zurück und gleichzeitig auf Wunsch der Neonazis die Journalisten ab.
Die sächsische Polizei überprüfte laut eigener Aussage fünf von den vermuteten 15 Neonazis in der Örtlichkeit. Unter ihnen Benjamin Brinsa, Legida-Redner Markus Johnke und Lukas B., der ebenfalls am Angriff in Connewitz beteiligt gewesen sein soll. Gegen alle drei, sowie weitere Neonazis laufen Ermittlungsverfahren wegen Bedrohung und Verstoßes gegen das Waffengesetz. Doch die Neonazis sind kreativ. So zeigten sie offenbar Journalisten wegen Bedrohung an – u.a. mich. Wenn die Justiz schnell ist, dürfte 2019 das spannende Jahr der juristischen Auseinandersetzung um diesen Tag werden.
April

„Die alte Garde“ Borchardt, Wulff und Worch in Dortmund. Oder wie Kollege Weiermann sie nennt: Die Maskottchen der rechten Szene. © Sören Kohlhuber
Endlich mal wieder ein Neonaziaufmarsch in der Ruhrmetropole Dortmund. International wurde geladen und es kamen dann auch entsprechende Redner. Eine Absolut skurrile Veranstaltung. Ehemalige Kriegsfeinde wie bulgarische und russische Nationalisten teilten sich das Mic, es sprachen aber auch Belgier, Franzosen und Deutsche. Wenn ein russischer Neonazi dir erklärt, dass sowohl die „Slawen“, wie auch die anderen „Völker Europas“ gemeinsam die „weiße Rasse“ vor dem vermeintlichen Feind aus dem Orient beschützen sollen, fragst du dich schon aus welcher Parallelwelt die Freaks kommen. Gerade Slawen, ob als Minderheit in Deutschland oder im osteuropäischen Ausland werden seit dem 13. Jahrhundert verdrängt, vertrieben und während des Dritten Reiches ermordet. Ebenso wirr schien die Moderation zu sein, als der belgische Redner mit dem Verweis, dass er aus Westdeutschland kommen würde, vorgestellt wurde. Finale: Sven Skoda, der kriegerische Auseinandersetzungen als „Meinungsverschiedenheit“ unter Nationalisten beschrieb.

Gedenkplakete für Mike Polley. Produziert und angebracht durch die antifaschistische Fangruppe „Georg Schwarz Brigade“ der BSG Chemie Leipzig. © Sören Kohlhuber
Einmal quer durch die Republik? Klar, wenn es sich lohnt. Aus diesem Grund ging es an dem Folgetag nach Leipzig. Die BSG Chemie Leipzig empfing den BFC Dynamo. Vor dem Spiel gedachten hunderte BFC-Fans dem 1990 von Polizisten erschossenen Mike Polley. In Gedenken an den Getöteten ließ die antifaschistische Fangruppe „Georg Schwarz Brigade“ der Grün-Weißen eine Gedenkplakette an einem ehemaligen Bahngebäude anbringen. Im „Trauerzug“ befanden sich erwartungsgemäß auch Berliner Neonazis, die mittels 79er-Ordner eine fotografische Begleitung meiner Person verhindern wollten. Die 79er waren dabei betont freundlich und verwiesen darauf, dass ich ja nicht unbekannt sei. Die Argumentation, Fußball bliebe Fußball und Politik bliebe Politik ließen sie nicht gelten.
Das Spiel endete mit einem 1:0 für die Guten, was leider den späteren Abstieg auch nicht verhindern konnte. Es war auch mein letztes Regionalligaspiel bei der BSG, doch nicht das letzte in diesem Jahr.
Das Fußballerisches Fotohighlight kam am Ende des Monats. Mehrere Akkreditierungsanfragen in Vaduz, Bern und Sion wurden nicht beantwortet oder mit verschiedenen Gründen abgelehnt. Der Traum, einmal die Fankurven in der Schweiz fotografieren zu können schien zu zerplatzen und dann kam doch noch die Zusage – aus Zürich. Am 29.04. empfing die Südkurve des FC Zürich meine Freunde aus dem Wallis im Letzigrund. Schon oft hörte ich von den FCZ-Ultras, ihren Choreos und auch ihrem Hang zur Gewalt. Politisch eher eine linke Fankurve, also sollte es für mich ja kein Problem werden. Das erste Mal Fotos machen im Profibereich. Aufregung beim Betreten der Tartanbahn. Das Stadion, ein weitläufiges Leichtathletikstadion noch leer und beeindruckend. Für Fußball nicht geeignet. Auch die bösen Zürcher, die Grasshopper, tragen ihre Spiele hier aus. Aufgrund dessen, dass beide Zürcher Fanszenen natürlich nicht so miteinander können, haben beide Fankurven gegenüber ihre Heimat und auch die Gäste können so von Gastspiel zu Gastspiel offenbar mal eine andere Perspektive erhalten. Dennoch unattraktiv, wie mir Menschen aus den anderen Städten berichteten. Im ungünstigsten Fall muss man sechsmal das Stadion sehen.
Rund 150 Sion-Anhänger im Stadion, im späteren Verlauf der obligatorische Bengalo. Nicht vergleichbar mit der Macht der Zürcher Südkurve. Da ich weder Hopper bin, noch Hopperfotograf, noch entsprechend europaweit vernetzt bin, habe ich natürlich vorher nicht die Kommunikation mit Zürich gesucht. Big fail, für den ich mich natürlich entschuldigen möchte. Während ich Fotos von Fahnen, und Geklatsche in der Heimkurve machte, wurde ich etwas aggressiv an den Block gerufen, um dann auf Schweizerdeutsch ein Fotoverbot für den Block zu bekommen, sowie eine Aufforderung zum Löschen der Fotos. Dies hat nichts konkret mit mir zu tun gehabt.
Zürich war eine tolle Erfahrung und Lehre. Ein schönes Souvenir, in Form eines Presseleibchen für 20 Franken gab es auch noch. Top!
Mai
Der „revolutionäre erste Mai“ läd seit Jahren dazu, sich in Deutschland Neonazireden anhören zu dürfen. Dieses Jahr war vermutlich mein erster Maifeiertag ohne Neonazis seit ich mich für Politik interessiere. Warum? Ich war in der Schweiz und machte Maifeiertags-Hopping. Ein Tag, drei Demos, drei Perspektiven. Vom ersten Mai in Zürich habe ich schon oft gehört, doch auch in anderen Städten demonstrieren die Eidgenossen. Ein Zeitplan musste her, um das Optimale rauszuholen. Am Ende war es morgens Basel, dann zum Sprung nach Solothurn, dafür Bern verpassen, aber kleines Finale in Thun. In Basel fand mit 2.000 Teilnehmenden die größere der drei Demonstrationen statt. Veranstalter aller Demonstrationen war die Gewerkschaft „Unia“ und ihr Kernthema war die Lohngleichheit von Mann und Frau. In allen drei Demonstrationen gab es immer einen autonomen linksradikalen Block verschiedener Ausrichtungen (während sich die Schweizer im Gegensatz zu den Deutschen das Thema Nahost sparen, nutzen sie zur Auseinanderdifferenzierung stärker Anarchismus vs. Kommunismus). Ein wenig Pyrotechnik gab es natürlich auch.
Basel. Nur am Rand präsentiere sich die Polizei mit einer Straßensperre aus Flatterband und schwer bewaffneten Einheiten. Nach meiner Erfahrung ist die Hürde, eine Demonstration bewilligt zu bekommen in der Schweiz so groß, dass es anschließend auch eher ruhig bleibt und die Cops daher nur chillige Bereitschaft schieben, selbst beim Einsatz von Pyro. Der linksradikale Block thematisierte die Geflüchteten, die papierlos in der Schweiz leben. Die betreffenden Personengruppen waren ebenfalls im Block sichtbar.
In Solothurn dagegen war für das Unterthema die Solidarität mit den Kämpfenden in Rojava. Viele der 400 Menschen hatten kurdische Bezüge oder kamen von Ultras des FC Solothurn. Immer wieder wurde der Umzug in schwarzen Rauch gehüllt oder durch rote Bengalos erhellt. Es ging durch die kleine Innenstadt und auf einer der Aare-Brücken wurde noch Rauch in den Farben Kurdistans in den Himmel entlassen. Faktisch gab es keine Polizeibegleitung, außer durch zivile Einsatzkräfte, die meinten, nach dem Aufzug potentielle Pyromanen ausgemacht zu haben. Den Abend verbrachten einige bei einem kurdischen Fest.
Ähnlich und doch wieder ganz anders präsentierte sich die wunderschöne Stadt Thun am Fuße des Stockhorn. 300 Linke aus dem Kanton Bern drehten eine Runde durch die Altstadt. Angeführt wie immer von der Unia, präsentierten sich vor allem die „Anarchistischen Gruppe Bern“ mit entsprechenden Bannern und forderten die Organisierung hin zum Anarchismus. Natürlich ging dies nicht ohne Pyrotechnik und auch die rote Konkurrenz war vor Ort. Auf einer Brücke wurde ein Banner mit der Aufforderung zum „Klassenkampf“ in rotem Rauch gehüllt. Ein kurzer Ausflug, aber auch nett.
Fazit. Erster Mai in der Schweiz heißt mehr Freiheit, mehr Pyro, keine Nazis, keine Cops, klare Forderungen. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn für Männer und Frauen, Regularisierung der Sans-Papier, Solidarität mit den Kämpfenden in Rojava und den Aufbau anarchistischer Strukturen. Ahu!
Zum Finale im Mai geht es wieder mal Leipzig. Finale nur ein Symbol? Nein. Die BSG Chemie Leipzig stand tatsächlich im Landespokalfinale und gewann am 22.05. auch noch mit 1:0. Megaparty, viel Pyro und die Aussicht auf das historisch erste Mal DFB-Pokal. Drei Tage zuvor gewannen auch noch die SG Eintracht Frankfurt nach 30 Jahren erneut den Pokal – am Ende also ein doppeltes Fest. Trotz Abstieg dennoch große Freude im Alfred-Kunze-Sportpark. Spieler mit Bengalo in der Hand in mitten der Ultrafankurve sind auch eher seltener zu sehen.
Juni

Danke an die vielen Gäste, bekannte Gesichter auf der Fusion. Vermutlich das letzte Mal dort gewesen. © Sören Kohlhuber
Das persönliche Jahreshighlight war eine Lesung und die fand im Juni statt. Der Hangar auf dem ehemaligen Fluggelände in Lärz füllte sich. Ja dieses Lärz mit der Fusion. Viele Gesichter kannte ich von anderen Veranstaltungen. Ob Osnabrück, Oldesloe, Leipzig, Berlin, irgendwie war das ein großes Wiedersehen. Wie es sich für ein nicht musikalische Veranstaltung gehört, lagen einige mit geschlossenen Augen auf dem Boden – vermutlich schlafend oder komatös, andere hingen besoffen in den Seilen. Wohl auch wegen dem vielen Freialk, den ich extra mitgebracht habe – danke an die „Antifa Kampfausbildung“, welche eine 3 Liter Flasche Berliner Luft springen ließ. Es war nicht einfach nur die größte Lesung, sondern auch eine der wohl authentischsten. Ich habe vermutlich in keinem Ort so wenig gelesen, wie in Lärz. Dennoch denke ich, dass es für alle eine gute Veranstaltung war.
Juli
Im Juni griffen Neonazis das AJZ Salzwedel an. Dabei drangen sie in das Gebäude ein und zerstörten teilweise die Einrichtung. Aus diesem Grund lag mein Fokus im Juli auf diese kleine Stadt in der Altmark. Neben einer Soliversteigerung eines Unikats von meinem letzten Buch, das insgesamt 200,00 € für die Bewohner des AJZ einbrachte, folgte auch eine Demonstration am 14.07. durch die Stadt. Diese Demonstration fand ein Spektrumbreite, die es so schnell wohl erstmal nicht mehr geben wird. Sowohl im politischen, wie im Fußballbereich liefen Menschen Seite an Seite, die sich im Alltag durchaus eher angreifen und bedrohen würden.
Wie erwartet präsentierten sich auch einige vermummte Neonazis am Rande. Zwar versuchten Teile der Antifademo diese anzugreifen, doch die niedersächsische Polizei, welche den Aufzug begleitete konnte das mit dem Einsatz von Pfefferspray verhindern. Zum Abend gab es noch eine Art Hoffest. Wochen später erfolgte wieder ein Angriff, diesmal auf eine Kneipe direkt gegenüber des AJZ. Die Stadtoberen wehren sich gegen den Vorwurf, dass es ein rechtes Problem in der Stadt gibt. Dabei ist die Altmark seit Jahrzehnten bekannt für seine aktive und gewaltsuchende rechte Szene. Teile dieser Szene sind mit Strukturen wie den Hells Angels verbandelt – so soll der Präsident der „Hells Angels Altmark“ früher Mitglied der „Freien Nationalisten Altmark West“ gewesen sein.
September
Der Sommer bestand überwiegend aus Festivalbesuchen und weiteren Lesungen und Vorträgen. Ein Ort, den ich zum zweiten Mal besucht habe, überraschte mit Neuem. Bereits 2017 war ich in Eisenach und so folgte am 06.09. ein zweiter Besuch. 2017 gab es einen Angriffsversuch von rund einem Dutzend Neonazis, die u.a. mit Flaschen, Pfefferspray und Schlagwaffen unterwegs waren. Ein Übergriff auf Veranstaltungsbesucher und die Räumlichkeiten konnte allerdings von den Gästen selbst verhindert werden bis die Polizei kam, keine Täter finden konnte und feststellte, dass niemand zu Schaden kam und auch nichts kaputt gegangen sei. Da die Jugendlichen aus Eisenach nicht als Zeugen zur Verfügung standen, ging die Polizei u.a. damit an die Presse, dass sie den Angriff anzweifelten, wobei die Neonaziszene noch weiter ausholte und unter Führung des kleinsten Pseudoführers Deutschlands, Patrick Wieschke, schwadronierte, dass die Lesungsbesucher ihrerseits mit Waffen die Neonazis angriffen und erst die Polizei für Ruhe gesorgt hätte.
Diesmal war man vorbereitet. Vorsorglich wurde die Polizei über die Veranstaltung informiert. Aufgrund der anhaltenden rechten Gewalt in Eisenach – für mich einer der schlimmsten Orte 2017/2018 wenn es um rechte Gewalt geht – war mir eine Vorabinformation an die Polizei durchaus Recht. Eventuell gibt es dann ein erhöhtes Aufkommen an Streifenwagen oder in der Nähe wird einer stationiert. Womit ich nicht gerechnet habe, war die halbe Erfurter Einsatzhundertschaft vor der Tür zu sehen. Am Ende waren wohl mehr Beamte als Gäste vor Ort. Es kam zu keinem Angriffsversuch durch die Neonazis. Ob sie von der blau-weißen Belagerung abgeschreckt waren oder einfach keine Lust hatten – wir werden es wohl nicht erfahren.
Im September stand aber auch eine Premiere an. Für gewöhnlich halte ich mich vom Profifußball in Deutschland fern. Fast alle Stadien sind hässliche Multiplex- und Shoppingarenen. Wenn mir Freunde ihre unterschiedlichen Chipkarten zeigen, mit dem sie in den Stadien Getränke kaufen, verweise ich lieber auf die Bratwurst-Zaun-Durchreiche in Probstheida. Seit dem Abstieg meiner geliebten Kogge im Jahr 2008 fand sich eh kein attraktiver Verein mehr im „Oberhaus“. Mein letztes Bundesligaspiel datierte sich auf den 25.09.2007 (Hansa gewann mit 3:1 bei Erna aus Westend). Das letzte Mal DFB-Veranstaltung dürfte auch einige Jahre her sein und war ein Spiel der Dritten Liga von Hansa Rostock gegen Chemnitz. Wenn nicht gerade Tennis Borussia Berlin oder zuletzt die BSG Chemie Leipzig im DFB-Pokal ran muss, bleibe ich lieber bei regionalen Fußballverbänden. Doch am 15.09. diesen Jahres wurde diese Enthaltsamkeit beendet. Und es hat sich gelohnt.
Liebe Menschen in Mainz luden mich ein. Eine kleine, aber feine Ultraszene, die – auch wenn es pathetisch klingt – sicherlich auch Einzigartiges in Deutschland ist. Zuletzt konnte man das auch mit dem „Last Christmas“-Gesang in Hoffenheim sehen. Sich nicht immer komplett ernst nehmend, durchaus selbstkritisch und von außen betrachtet auch recht offen. Dies ist so in Ultradeutschland ja nicht unbedingt immer anzutreffen. Einige der Lieder verlor ich erst eine Woche später aus dem Gehirn. Was ich nicht vergessen werde ist diese unsägliche Sache mit der Torkamera. Da bin ich froh, wenn ich den Schiedsrichter verfluchen kann, statt Minuten der Spielunterbrechung durch diese Scheiß Technik. Fußball ist Sport mit, von und für Menschen. Und da sollen Fehler passieren. Fehler die aufregen, die glücklich machen und Emotionen erzeugen. Stattdessen wird es technischer und abgehackter. Fehlen noch Timeouts aus dem Football oder die Powerbreaks aus dem Eishockey. Profifußball ist Entertainment und Ultras sind Teil dessen. Ob kritisch oder nicht ist dabei egal. Ehre den Kämpfenden, aber Respekt vor denen, die sich diesem System weitestgehend entziehen und eigene Dinge aufbauen wie dem HFC Falke oder den vielen Kreisligaultras- und Spielern.
Dennoch hat mich Mainz erfolgreich angefixt und man sieht sich ja schon bald wieder.
Oktober
Der Oktober dürfte die Zeit meiner intensivsten Reisen gewesen sein. Doch der Start im Oktober hatte schon einige in sich. Die Neonazis rund um Enrico Stubbes „Wir für Deutschland“ luden mal wieder zum „Merkel-muss-weg“-Watscheln. Als Datum suchte man sich den 03.10. aus – den Tag der deutschen Einheit. Aufgrund der Situation des Tages war man auch gleich mal in dieser diffusen Terrorlage. Nun ist Berlin seit dem Amri-Anschlag ein wenig belastet. Die Terrorangst ist somit nicht ganz so diffus. Die Frage ist nur, wie begegnet man solchen Terroristen. Erste Maßnahmen waren bei Weihnachtsmärkten Fahrzeugsperren aufzustellen. Dies mag sinnvoller sein, als Maschinengewehre und Panzerfahrzeuge. Doch gerade von diesem martialischen Auftreten wird man wohl im Zeitalter der „Terrorangst“ nicht mehr abrücken wollen. So schickte die Niedersächsische Landespolizei einen Sonderwagen, der allgemein als „Räumpanzer“ bezeichnet wird. Auf ihm montiert ein automatisches und schussbereites Maschinengewehr. Mit eben diesem Fahrzeug, fuhr man vor der Neonazidemonstration.
Es war ein voller Erfolg. Kein Islamist versuchte den Neonaziaufmarsch zu sprengen oder mittels fahrbaren Untersatz anzugreifen. Es waren Antifaschisten, die sich versuchten dem Aufmarsch entgegenzustellen. Diese hätten bei erfolgreichen Sitzblockaden wohl auch in den Lauf des Maschinengewehrs blicken können. Doch dazu kam es nicht. Erfolgreiche Sitzblockaden blieben aus und nachdem das schwere Gerät mit Bewaffnung seine Ehrenrunden auf Twitter dreht, holte die Polizeiführung diesen aus der Sichtweite – angeblich wollte man den da gar nicht einsetzen. Vermutlich haben die Niedersachsen sich nur verfahren. Ebenso wie die zum Antiterrorkampf ausgebildeten BFE-Plus-Beamten, die vom Start an die Vorhut zur Demo bildeten. Die Beamten aus dem brandenburgischen Blumberg boten anfangs ihren BFE-Kollegen aus Baden-Württemberg an, Antifas von der Straße zu räumen. Später kümmerten sie sich um Neonazis, welche Auseinandersetzungen mit Gegnern suchten, warfen sie nach anhaltenden Provokationen kurzerhand aus der Neonazidemo.

Pro Schuss werden bis zu 35 solcher Projektile verteilt. Lieblingswaffe der Schweizer Riotpolice. © Sören Kohlhuber
Betrachtet man die Polizei intensiv, war es also ein guter Start in den Oktober, der direkt wenige Tage später ein neues Highlight für mich präsentierte. Es ging mit einem Sonderzug der Freunde des FC Sion zum Ligakracher nach Neuchatel. Überschaubare Polizeipräsenz – wie immer in der Schweiz, bei Ankunft in „Neuenburg“. Auch keine gegnerischen Fans zu sehen. Vor dem Stadion gab es einen kurzen Versuch in Richtung der Heimkurve durchzustoßen, doch an der zweiten Polizeisperre machte man dann kehrt. Wasserwerfer und die Androhung des Einsatzes von Schusswaffen, das reicht mir auch. Gute Stimmung, Pyro gab es natürlich auch. Auf beiden Seiten wurde gezogenes Material präsentiert. Anschließend ging es zur Ehrenrunde Richtung Heimkurve mit dem zu erwartenden Stopp an Polizeisperre zwei, wobei die erste auch nur ein Flatterband war. Diesmal verblieb man an der Stelle, bis die französischsprechenden Einsatzkräfte loslegten: Schockgranaten und Gummigeschosse. Das erste Mal, dass diese fiesen Dinger am Kopf vorbeisausten. Etliche Walliser blieben erstmal nach erfolgreichem Treffer liegen. Anders als in Deutschland erfolgten keine Zugriffe durch die Einsatzkräfte. Sie blieben auf ihrer Linie und schossen nur. Ihre Erwartung war, dass der Haufen zurück nach Wallis fahren werde, was man auch tat. Ich steckte mir dagegen eins der sechseckigen Hartgummi-Projektile ein. Ein besonderes Souvenir.
Ende Oktober folgte die Eröffnung einer für mich besonderen Einrichtung, dem Subversiv in Gelsenkirchen.
Es gibt dazu eine Vorgeschichte. Seit 2007 gibt es eine bestehende Verbindung von mir ins Ruhrgebiet. Vor allem aber zu Gelsenkirchen. Und so war ich bereits im Oktober 2011 mit Freunden bei der Eröffnung des ersten Subversiv. Ein Freund aus Gelsenkirchen meinte damals, als es um den Namen geht: „Leute. Wir können den Laden nicht so nennen. Ich war in Berlin. Da gibt’s schon einen Laden mit dem Namen.“ Die anderen im Verein aber sagten, die Chance, dass jemand aus Berlin kommen würde, wäre ja wohl mal sehr gering. Zack standen wir in der Tür und sorgten am Abend sogar für Musik. Nun, sieben Jahre später, wieder eine Eröffnung. Wieder Oktober. Wieder bin ich da und Teil der Veranstaltung. Diesmal mit einem Vortrag. Ich hoffe der Laden hält sich länger und ich freue mich für die Menschen in Gelsenkirchen, dass es diesen tollen Ort gibt.
Direkt danach ging es auch einmal quer wieder durch die Republik. Am 30.10. erwartete mich was Besonderes. Das erste Mal Fotos machen bei einer DFB-Veranstaltung. Die BSG Chemie Leipzig empfing den SC Paderborn. Nachdem man in der ersten Runde Jahn Regensburg aus dem AKS schoss sollte, das nächste kleine Wunder vollbracht werden. Leider spielten die Profis aus Ostwestfalen ihr Programm souverän ab. Dennoch war es für mich eine schöne Erfahrung, die ich nicht nochmal brauche. Sky-Hampelmänner, die mir sagen wollen, wo ich stehen soll, damit ich nicht in deren Bild laufe, dazu diese komischen DFB-Pokalbanden, über die man rüber steigen muss und überall Kabel, über die man stolpert. Aber das Flutlicht war dufte. Auch wenn es nur mobil war und nun vorerst nicht nochmal gebraucht wird. Eine feste Flutlichtanlage im AKS wäre schon was Feines und ich denke, die Fans und der Verein werden sie auch in Zukunft bekommen.
November
Das Jahr nähert sich mit großen Schritten dem Ende. Für mich ging es Ende November mal wieder nach Basel. Zum 24.11. rief die neonazistische „Partei national orientierter Schweizer“ (PNOS) zu einer Kundgebung gegen den Migrationspakt auf. Laut Antifaschisten handelte es sich um den ersten rechten Aufmarsch in der Schweiz seit neun Jahren – Grund genug für mich zur sieben-stündigen Zugfahrt aus Coburg, wo ich vorher noch eine Lesung hatte. Es waren keine 100 Neonazis, dafür mehr als 1.000 Gegner. Wie immer wenig Polizei im Einsatz, dafür aber sehr schießwütig. An mindestens drei Stellen wurden verschiedenste Formen der Gummigeschosse und Gummischrotmunitionen verschossen. Nach meinem Besuch in Neuchatel gab es also eine neue Steigerung. Eine antifaschistische Demonstration stand irgendwann zufällig in der Straße der Neonazis, daraufhin bildeten Etwa 10-15 Beamte eine Kette. Zwar gab es keine Versuche die Polizeikette zu durchbrechen, doch ein Beamter hatte offenbar einen nervösen Zeigefinger, drückte ab und endlich, da war er: Ein Treffer am Oberschenkel. Hat gezwickt wie Sau. Anwesende Bekannte und Kollegen lachten mich aus, denn sie waren in Sicherheit gegangen. Später folgte eine der berühmten Ausschreitungen Schweizer Art, bei der unter 50 Beamte und keine 100 Autonome sich gegenseitig mit Gegenständen beschießen und bewerfen. Der Boden war übersät mit den Projektilen der Gummischrotgewehre, einige Personen erlitten schwere Verletzungen, teilweise am Auge. In Deutschland hätte die Eskalation nur wenige Sekunden gedauert, es hätte einige Gewahrsamnahmen gegeben. In der Schweiz steht die Polizei allerdings auf einer Linie und versucht damit den gewaltsamen Protest zu verwalten, statt ihn zu unterbinden. Mehr als gewöhnungsbedürftig.
Dezember
Direkt von Basel aus ging es mal wieder nach Leipzig. Wie so oft in diesem Jahr erwartete mich die BSG Chemie Leipzig. Diesmal mit einer besonderen Aktion. Bereits am Freitagmorgen sollte ich im Stadion sein, Freunde der „Georg-Schwarz-Brigade“ luden mich ein mit ihnen gemeinsam das Stadion umzubenennen. In Gedenken an den antifaschistischen Widerstandskämpfer Georg Schwarz sollte das Stadion seinen alten Namen für einen Tag wieder tragen. Gleichzeitig wurde eine kleine Choreographie vorbereitet. Für die antifaschistische Fangruppe war es gleichzeitig ein Geburtstag. Dazu alles Gute nochmal aus Berlin.

Down with the Nazi-Flag. Finnische Polizei beschlagnahmt Hakenkreuzfahne und ihre Träger. © Sören Kohlhuber
In der folgenden Woche wartete auf mich das zweite Mal in Folge der Neonaziaufmarsch in Helsinki. Aktuell gibt es ein Verbotsverfahren gegen die Gruppe „Suomen Vastarintaliike“ (SVL), der „Finnische Widerstandsbewegung“. Die drei Eckpfeiler des Verbots sind terroristische Anschläge ihres schwedischen Ablegers, weshalb der finnische Staat von einer „ausländischen Terrororganisation“ spricht. Daneben ist der tödliche Übergriff eines SVL-Mitglieds auf den Antifaschisten Jimi Joonas Karttunen von September 2016 relevant, sowie die Verehrung des „Dritten Reiches“. Letzteres bestritt die SVL teilweise, verklebte aber Aufkleber mit Hitlers Kopf und ihrer Webadresse. Dieses Jahr folgte die wohl finale Provokation. Die Polizei beantragte ein Vorab-Verbot, welches abgelehnt wurde, da die Gruppe immer noch vor dem obersten Gerichtshof in Einspruch gehen kann. Aus diesem Grund präsentierten die Neonazis nicht wie übliche ihre Gruppenfahnen. Bzw. ließen sie einfach die Tyr-Rune weg. Dafür marschierten in der ersten Reihe Führungskader des finnischen Ablegers mit Hakenkreuzfahnen. Kurz nach dem Start wurde die Polizei aktiv, zerbrach die Fahnen, nahm die Träger in Haft.
Mehr als 200 Neonazis versammelten sich und beendeten mit bengalischen Lichtern und Hitlergrüßen ihre erste Veranstaltung. Am Rande konnten sich immer wieder Antifas Gehör verschaffen, doch Blockaden blieben aus.
Am Abend folgte dann noch der Fackelmarsch, an dem wieder bis zu 2.000 Rechte teilnahmen. Sowohl Personen aus dem Spektrum der „Patrioten“, aber eben auch von SVL, darunter vermummte Neonazis. Das zweite Mal ein erschreckendes Bild in Helsinki.
Leider war diesmal keine Zeit für Urlaub und Sightseeing, denn es ging direkt nach Hannover. Dort wurde eine Soliveranstaltung vorbereitet. Es war mein letzter Vortrag vor einer kleinen Pause und wir sammelten alle gemeinsam Geld für den Infoladen „La Bombonera“ in Limbach-Oberfrohna. Etwa 50 Menschen und eine dreistellige Summe an Geldspenden. Ein absolut wunderbarer und langer Abend. Die Fortsetzung der Solishows war auch gleichzeitig meine letzte Lesung nur eine Woche später in Düsseldorf. Oh Moment. Duisburg. Kurzfristig wurde die Veranstaltung in Düsseldorf leider abgesagt, aber einige wenige hielt dies nicht auf und sie organsierten schnell Räume in Duisburg. Vermutlich sorgte dies für Verwirrungen. Dennoch war auch Duisburg ein runder Abend mit einigen bekannten Gesichtern und wunderbarer Musik.
Den absoluten Abschluss setzte dann noch Altenburg. Spontan fragten die Menschen aus dem ostthüringischen Kaff, ob ich da nicht eine Zusatzshow machen mag. Liegt eh alles auf dem Weg nach Hause. Also Zwischenstopp in der „Roten Zora“ und eine schöne Lesung mit absoluten herzlichen Menschen beendete eine 2,5 Jahre anhaltende spannende Reise mit weit mehr als 100 Lesungen in annähernd 100 Städten.
Ein zeitaufwändiges Jahr mit viel Streß und viel Zeit im Zug. Viele Orte hat man gesehen und Menschen kennengelernt, weswegen man am Jahresende sich ja immer auch gerne bedanken will. Ist gar nicht so einfach, weil man viel vergessen hat. Damit sich niemand auf den Schlips getreten fühlt machen wir es einfach und beschränken das Ganze auf 16 Orte, die mir wichtig sind oder mir sehr sehr wichtige Menschen. Das bezieht sich nicht unbedingt nur auf dieses Jahr. Aber eben natürlich auch in diesem Jahr wieder präsent waren. Ihr lest die Orte und wisst dann ja selber, dass ihr gemeint seid.
Danke, Gruß, Kuss nach:
Bern, Berlin, Dessau, Dortmund, Eisenach, Gelsenkirchen, Hamburg, Hannover, Kremmen, Leipzig, Lübeck, Rathenow, Saalfeld, Solothurn, dem Wallis und Wien.
Dein Bericht liest sich toll. Vielen Dank & alles Gute.
inXen
LikeLike